Martin Tiefenthaler: Wie glaubwürdig …

Blogbeitrag TYPO Berlin, 2015

Martin Tiefenthaler: Wie glaubwürdig sind manche Characters?

Der Führer hat immer recht. ODER WAR ES DER VERSALSATZ? Martin Tiefenthaler über Glaubwürdigkeit, Religion, Politik und fehlende Fragen im Umgang mit Groß- und Kleinschreibung.
 
Show und Stage – ständig verwechsle ich die beiden Vortragsräume der TYPO. In einer langen Schlange stehend (die sich obendrein noch mit der Toiletten-Schlange kreuzt) frage ich mich, ob ich überhaupt auf den richtigen Vortrag warte. Die Bestätigung kommt auf dem Audiokanal: Bei so viel österreichischem Akzent um mich herum, muss das die Schlange für Martin Tiefenthaler sein.
 
Indra Kupferschmid begrüßt zum „großen Finale“ des Freitagabends: „Es sind sicher einige Österreicher im Publikum?“ Jubel. „Bestimmt sind auch einige Studenten von „Die Graphische“ hier?“ Erneuter Jubel. So beginnt Martin Tiefenthaler seinen Vortrag zur „semantischen Aufladung von Großschreibung“ in einer wohlwollenden Atmosphäre mit gebannt lauschendem Publikum.

Ihm geht es um Glaubwürdigkeit. Das stellt er zu Beginn klar. Um die Glaubwürdigkeit unserer Kultur der Groß- und Kleinschreibung, ein „weltweit einzigartiges System, das viel zu wenig hinterfragt wird“. Über Lesbarkeit oder Rechtschreibung will Martin Tiefenthaler an dieser Stelle nicht sprechen – obwohl er es sicher könnte – sondern vor allem über den Zusammenhang von Typografie, Macht und gesellschaftlichen Wandlungen.
 
 
1. naturalisation
Als „naturalisiert” bezeichnet man eine Norm, die so weit in einer Kultur verbreitet ist, dass sie nicht konstruiert sondern „natürlich gegeben“ wirkt. Das gehört so. Das war schon immer so. Dass es sich um „Menschenkonzepte“ handelt, um Entscheidungen, die irgendwann mal von irgendjemandem getroffen wurden – und zwar aus einem bestimmten Interesse – wird häufig nicht hinterfragt. So auch in der Groß- und Kleinschreibung, meint Tiefenthaler. „Wessen Interesse war das?“, fragt er und führt ein Zitat von Sir Karl Popper an: „Wer ein komplexes (politisches) Problem verstehen will, tut gut daran, es auf eine möglichst einfache Frage zurück zu führen. Diese einfache Frage lautet in der Regel: Cui bono? (Wem nützt es?) Die Komplexität des Problems erweist sich dann als nachgeordnetes Phänomen – nämlich als Produkt aller Versuche, die Antwort auf diese einfache Frage zu verschleiern.“
 
Es folgt ein historischer Abriss zu den Personen, die die Groß- und Kleinschreibung in der deutschen Sprache offiziell in Frage gestellt haben, angefangen mit den Gebrüdern Grimm 1854, über Walter Porstmann (Begründer der deutschen Papierformat-Norm), Herbert Bayer (Bauhaus, „Warum groß schreiben, wenn man nicht groß sprechen kann?“) und Adolf Loos (Architekt), der im Einsatz von Großbuchstaben eine „Verwilderung der Sprache“ sah. Gemeinsam haben sie eins: Es sind ökonomische und formale Ansätze, keine semantischen. Und häufig nicht besonders konsequent in der Umsetzung, vielleicht auch wegen der harschen Kritik an diesen Ideen, die „das ganze Thema zur Ideologie machten“.

Als „letzten in dieser Reihe“ nennt Tiefenthaler den Grafiker Otl Aicher, der „ein großartiger Denker, aber kein besonders guter Schriftgestalter war“. Die Rotis leuchtet zum Beweis wirr in den Vortragsraum hinein. Dafür sei Aicher der erste, der eine semantische Ebene in die Diskussion zur gemischten Schreibweise einbringt: Das Auszeichnen der Hauptwörter durch große Anfangsbuchstaben sei zu gewichtig und noch dazu durch eine uralte Schrift, die römische Capitalis, vollzogen. Eine Erstarrung der Sprache.
 
 
2. ein ausschließlich europäisches phänomen
Martin Tiefenthaler fährt fort mit der weltweiten Einzigartigkeit dieser Tradition. Viele Bildbeispiele folgen, gelbe Pergamente werden projiziert, angefangen im Jahr 100 nach Christus oder – wie Tiefenthaler vorschlägt – nach Seneca, einem römischen Philosoph, der „im Jahr 1 geboren wurde, und mit dessen Aussagen viel weniger Schindluder getrieben wird“. Die Abbildungen zeigen handschriftliche Aufzeichnungen, eine Zeitreise vom Fragment von Euklid bis hin zur ältesten Vulgata-Übersetzung. Immer in einer einheitlichen Schriftart geschrieben.
Doch um das Jahr 400 (nach wem auch immer) verändert sich der Umgang mit dem geschriebenen Wort: Es muss mehr und schneller geschrieben werden, das Schriftbild wird flüchtiger, die Kleinbuchstaben entstehen. Mehrere Jahrhunderte vor der karolingischen Minuskel. Eine Formveränderung durch Schnelligkeit und neue Materialien, auf denen geschrieben wird. Verschiedene Schriftstile existieren zu dieser Zeit nebeneinander, aber sie werden nie miteinander vermischt. Bis ins Jahr 600/700: „Im irischen Raum, wahrscheinlich durch den Einfluss des Keltischen und durch ein großes Ornamentbedürfnis“ werden die Schriftstücke lebendiger. Es gibt Variationen in der Schriftgröße, Initialen werden entwickelt, der Text wird reich geschmückt, aber er bleibt visuell eine Einheit.
 
 
3. autoritative paratexte
Etwa ab dem 7. Jahrhundert taucht ein neues Phänomen auf: Text, der nicht zum Text gehört. Ein Abschnitt auf dem gleichen Schriftstück, der von etwas anderem handelt, wird in einer anderen Schrift geschrieben. Der „Paratext“ entsteht und entwickelt sich weiter. Laut Tiefenthaler eine „formale Revolution, weil eine Schrift aufgegriffen wird, die seit 300 bis 400 Jahren aus der Mode ist“. Return of the upper case. Sie betonen, wo Texte beginnen und wo sie enden. Mehr Bildbeispiele folgen und der Vortragende ist sich sicher: Hier geht es nicht um rein formale, ordnungstechnische Fragen. 
Er geht auch auf die rare Literatur zu diesem Thema ein, vor allem zurückführbar auf den Bücherverlust im Mittelalter, durch Brandanschläge auf Bibliotheken innerhalb von Glaubens- und Kulturkriegen. Das Christentum wird Staatsreligion, die anderen Religionen werden verboten, „Irrlehren“ unter Strafe gestellt, die Wahrheit, die Wirklichkeit werden vorgegeben. Die Freude an der Skepsis (gegenüber politischen oder religiösen Machtstrukturen) steht Tiefenthaler ins Gesicht geschrieben, als er auf die problematische Quellenlage der Bibel eingeht – fast ein Vortrag für sich. Er leitet daraus die Notwendigkeit einer semantischen Differenzierung ab, auch in der Schrift. „Dieser Satz gilt und dieser Satz gilt nicht“ – eine formale Unterscheidung als Gewichtung verschiedener Ebenen. Versalien, die Tatsachen schaffen.
 
 
4. autoritäre behauptungen
Dieser autoritativ eingeführte Stil wird weiterentwickelt. Martin Tiefenthaler zeigt Beispiele von Inschriften an Denkmälern und Gebäuden in Versalien: „Was mich immer verblüfft, ist diese große Mühe, die dafür aufgewendet wurde und diese herausragende Stellung am Bauwerk, und im Gegensatz dazu die Banalität von dem, was dort eigentlich steht.“ Das Publikum amüsiert sich prächtig über die vorgetragenen Inschrift-Übersetzungen: Aufzählungen von Titeln, „… hat es in seiner dritten Amtszeit errichtet“, und dann die Wochensprüche der NSDAP.

„Der Führer hat immer Recht“. Diesen Satz nimmt Tiefenthaler als Beispiel um zu demonstrieren, wie er im ursprünglichen Versalsatz wirkt, in gemischter Schreibweise und letztendlich komplett klein geschrieben, um einzusehen: „Das glaubt keine Sau“. Wochensprüche dieser Art hat die NSDAP alle 14 Tage in Schulen und Ämtern ausgehängt. Martin Tiefenthaler hat sich in Berlin und München durch die Archive zu diesen „Verordnungen“ gekämpft und eine interessante Feststellung gemacht: Mit steigender Prekarität des Krieges nimmt die Großschreibung in den Wochensprüchen zu. Das Leid und die herben Rückschläge erfordern es, die Bevölkerung zum Durchhalten zu animieren. Mehr Glaubwürdigkeit durch Versalsatz.
Tiefenthaler zeigt weitere Beispiele aus der Religion und – zeitgenössischere – aus „der anderen Religion“, der Werbung. „GOLF MACHT SPASS“, „GELD MACHT HAPPY“ – man kann „den größten Schwachsinn in Großbuchstaben schreiben, und es funktioniert.“
 
Er sei nicht grundsätzlich gegen Versalsatz, betont der Vortragende. Aber gegen die unüberlegte, reflexartige Anwendung davon. Jubel. DANKE, MARTIN TIEFENTHALER.