Rindenkuss

Erzählung zu einem Autounfall, 2004

Schriller Weckerruf erklärt meinen Träumen den Kampf. Realität erklimmt meinen blinzelnden Augenaufschlag. Fünf Uhr Vierzig. Zeit zu fahren. Die Pflicht ruft. Viel zu laut, viel zu plötzlich. Die Pflicht brüllt. Muss gehen. Tausche warme Daunenwelt gegen lautlos kriechende Kälte. Geräusche sind über Nacht erfroren. Nur die Pflicht ruft noch in der Ferne. Weiß gepuderte Friedlichkeit. Schläfriger Ruhepuls pocht beruhigend gegen freigekratzte Fenster. Staubige Heizungsluft umlullt die Augen, wringt aus, wie feuchte Waschlappen. Atemwolken suchen ihren Weg zur Wärme. Friedliche Straße durch friedlichen Wald. 

 

Spiegelnde Straße spottet meinen Reifen. Lacht mich aus. Hakt sich bei mir ein um zu Schunkeln. Mein Auto, ein Karussell ohne Ausstieg. Machtlos. Ausgeliefert. Entgegenkommende Scheinwerfer setzen mich ins Rampenlicht. Kenne meinen Text nicht. Bete, fluche, schreie. 

 

Bremse um mein Leben. Bremse ins Leere. Der Körper besteht nur aus rechtem Bein, gebündelt von Angst, verkrampft vor Verzweiflung. Bäume, eben noch schummrige Schatten am Rande des gähnenden Heimwegs. Nun beleuchtet von meinen Scheinwerfern, die meinem Schicksal vorauseilen. Die Schatten bekommen Struktur. Ich erkenne die Rinde, die ihre Arme ausbreitet. Rindenkuss. Bremse ins Leere. Die Rinde spitzt ihre Lippen, um mein Gesicht zu liebkosen. Bete, fluche, schreie. Gespitzte Lippen, furchig-faulig, Todeskuss. 

 

Reifen räkeln sich in waldigem Boden. Finden wohl Gefallen daran. 

Bleiben 

stehen. 

Rindenkuss verschmäht mein Gesicht, Kuss auf Metall, kurz und heftig. Plötzlich bewegungslos. Gestutzte Fingernägel in geständigem Lenkradgummi. Steige aus. Schneespur erzählt von abgelaufener Vergangenheit und fast abgelaufener Zukunft. 

Steige ein. Weine. Zittere.

Lebe.